Dynamische Räume: Handlung und Wahrnehmung in hellenistisch-römischen Heiligtümern (Habilitationsprojekt)
Projektleitung: Dr. Asja Müller
Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts, das aus einer Anstellung am SFB 1266 »TransformationsDimensionen« an der CAU Kiel hervorgegangen ist, steht das Zusammenspiel von Landschaft, Architektur und Mensch von der Spätklassik über den Hellenismus bis zur hohen Kaiserzeit.
Hans Lauter hatte bereits in den 1980er Jahren herausgearbeitet, dass sich gerade der Hellenismus als ein Schlüsselmoment im Verhältnis von Mensch und Umwelt erweist, denn er zeichnet sich durch einen bewussteren Umgang mit landschaftlichen und architektonischen Elementen aus, die gezielt zur Schaffung von Ausblicken und Prospekten eingesetzt wurden, und dann ihrerseits die Grundlage für Architekturtrends in der Kaiserzeit bildeten. Lauters Analyse basierte jedoch auf einem sehr statischen Handlungskonzept, das an Grundrissen und Modellen aus der Vogelperspektive entwickelt wurde.
Der Ansatz des hier beschriebenen Forschungsprojekts ist jedoch ein anderer; er fragt gezielt nach der Interaktion von menschlichen Akteuren, Landschaft und Architektur. Dazu werden verschiedene theoretische Modelle der soziologischen Forschung herangezogen, wie etwa jene von Bruno Latour und Martina Löw, die Mensch-Objekt-Beziehungen und damit auch gebauten Raum als ein dynamisches, relationales Konstrukt von physischen Konstituenten in Interaktion begreifen (Landschaft – Architektur – lebende Körper). Wie Henri Lefebvre herausgearbeitet hat, wird Raum dabei sozial produziert und mit Theodore Schatzki kann das soziale Element, das die physischen Konstituenten in immer neuen Konstellationen anordnet, als Praxis verstanden werden.
Daraus leiten sich sowohl die Zielsetzung als auch der Ansatz des Forschungsprojekts ab: Das Verhältnis von Landschaft und Architektur soll in Wechselwirkung mit menschlichen Bewegungs- und Wahrnehmungsoptionen als grundlegender Form sozialer Praxis, d. h. aus der Bodenperspektive, untersucht werden. Methodisch stützt sich die Untersuchung auf archäologische Feldstudien, Informationen aus der Forschungsliteratur und digitale, dreidimensionale Modelle.
Auf dieser Grundlage bietet sich vor allem ein architektonischer Funktionstyp zur Analyse an: Heiligtümer, da diese durch ein grundsätzlich vergleichbares Set von Baumodulen (Kultgebäude, Altar, Temenosbegrenzungen, evtl. Bankettgebäude, Brunnenhäuser, Propyla etc.) gekennzeichnet sind und auf relativ konkrete (rituelle) Handlungen hin konzipiert waren.
Ein bestimmter Typ von Heiligtümern, die Asklepieia, ist für diesen Zweck besonders geeignet. Aufgrund ihrer Haupt(um)bauzeiten in Spätklassik (z. B. Epidauros), Hellenismus (z. B. Messene und Kos) und hoher Kaiserzeit (z. B. Pergamon) eignen sich diese Anlagen nicht nur besonders gut, um die sich verändernden Eigenschaften des gebauten Raumes in diachroner Perspektive zu untersuchen. Gleichzeitig verfügen Asklepieia auch über den umfangreichsten Bestand an Schriftquellen, was die Rekonstruktion des Bewegungs- und Wahrnehmungshabitus von spezifischen Akteurstypen (fremde Theoroi [Festbeobachter]/einheimische Bürgerinnen und Bürger) sowie Handlungsmustern (Fest/Heilungsritual) ermöglicht. Auf diese Weise kann die Diversität des gebauten Raumes gezielt in den Blick genommen werden.
Erklärtes Ziel des Forschungsprojekts ist es daher zu untersuchen, wie in hellenistisch-römischen Heiligtümern die Raumerfahrung dieser Akteure bei diesen Praktiken gestaltet war, was damit beabsichtigt wurde und inwiefern sich hier von der Spätklassik bis zur Kaiserzeit ein Wandel abzeichnet.
»Dynamische Räume: Das Asklepiosheiligtum von Kos bei Fest und Heilungsritual«
(DFG-Projekt)
Der im Habilitationsprojekt beschriebene Ansatz wird spätestens ab Januar 2024 durch ein kürzlich bewilligtes, auf zwei Jahre Laufzeit ausgelegtes DFG-Projekt vertieft und ergänzt. In Kürze wird es dazu eine eigene Website-Präsenz geben.
Das DFG-Forschungsprojekt hat zum Ziel, hellenistische Architektur (am Beispiel des Asklepieions von Kos) zu einem bestimmten Zeitpunkt (Mitte des 2. Jhs. v. Chr.) hinsichtlich ihrer Wechselwirkung mit der Handlung und Wahrnehmung menschlicher Akteurinnen und Akteure (auswärtige Festbeobachter [Theoroi]; lokal ansässige Heilsuchende) in zwei konkreten antiken Erfahrungssituationen (Fest und Heilungsritual) zu analysieren.
Als heuristisches Instrument wird dabei ein von Grund auf neu zu erstellendes, digitales Modell der Sakralanlage dienen, das (neben anderen) die Körper dieser Akteurinnen und Akteure als Avatare einschließt und zur Simulation ihrer jeweils spezifischen Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster fähig ist (Serious-Gaming-Ansatz).
Als Ergebnis soll am Ende der Projektlaufzeit nicht nur die Erkenntnis stehen, welche Art von Raumkonstellationen in Hinblick auf bestimmte Typen von Akteurinnen und Akteuren sowie Handlungen designt worden sind; es geht ganz dezidiert auch darum, Erklärungsmodelle für diese prozessualen Raumwahrnehmungsoptionen zu entwerfen, die an den jeweiligen Akteurstypus und seine Handlungen gebunden waren (z. B. gezielte Bewegungs- und Blicklenkung der fremden Festbeobachter als Mittel, um die ästhetische [Außen-]Wirkung des Festes zu steuern). Es gilt also, in Ergänzung und Differenzierung bisheriger übergreifender Schlussfolgerungen zur hellenistischen Architektur, die Diversität antiken, gebauten Raumes in Auge zu fassen.
Projektleiterin: Dr. Asja Müller (Freie Universität Berlin)
Kooperationspartner: Prof. Dr.-Ing. Martin Kim (Hochschule Mannheim)