Maleficium — Sycorax

Es gibt Erinnerungen, die nicht ausgesprochen, sondern getragen werden. Sie schreiben sich nicht in Texte, sondern in Körper ein: in Haltung, Reaktion: in das, was unausgesprochen zwischen den Generationen weitergegeben wird. Auch mein Körper weiß Dinge, die ich nie erlebt habe. Er erinnert sich an Flucht und Verlust, an die feine Linie zwischen Anpassung und Auflehnung. Vielleicht stammt diese Erinnerung von meiner Großmutter – meiner Vieja Bruja – die mit Entschlossenheit und Widersprüchen durch ihr Leben ging.

 

Heute fotografiere ich mit ihrer alten analogen Kamera. Eine kleine Zeitmaschine aus Metall und Glas. Wenn ich hindurchblicke, sehe ich nicht nur die Gegenwart; ich sehe Spuren, Risse, Überlagerungen. Etwas, das da ist, aber nicht sichtbar sein will. In der Dunkelkammer tauchen diese Bilder langsam aus dem Nichts auf: Silhouetten, Licht und Schatten, Vergangenheit und Gegenwart. Fotografie wird hier nicht zur Abbildung, sondern zur Suche; eine Form der Befragung, vielleicht auch der Beschwörung: Erinnerungsmagie.
Aus diesen Bildern entsteht ein Buch. Ein Buch, das nicht nur dokumentiert, sondern fragt. Es verbindet meine persönliche Geschichte mit feministischen Theorien, mit dem Wissen um historische Gewalt, Verfolgung, Widerstand und Disziplinierung weiblicher Körper. Die Kamera wird zum Instrument des Nachforschens und Sichtbarmachens; das Buch zum Ort, an dem sich Bild und Text, Gegenwart und Vergangenheit, Intimes und Politisches, Weiblichkeit und Stärke, verweben.
Ich erzähle keine lineare Geschichte. Es geht um Fragmente, um Spuren, um ein Weiterleben dessen, was nie ganz verschwunden ist. Die Hexen der Geschichte: jene, die ausgeschlossen, verurteilt, verbrannt wurden; erscheinen hier nicht als ferne Figuren, sondern als Teil eines kollektiven Gedächtnisses, das sich bis in meine eigene Familie und in mein Bewusstsein zieht.
Und vielleicht, wenn man das Buch aufschlägt, begegnet man dieser Ahnung: dass das, was als Schwäche galt, oft Widerstand war. Dass 
das, was als Abweichung bezeichnet wurde, ein anderer Blick auf die Welt ist. Und dass etwas davon – leise, zäh, unbeirrbar – weiter brennt. Es ist Nachhall und Auftakt zugleich: ein Ort, an dem die Hexen der Geschichte, der Gegenwart, die Vieja Bruja meiner Familie und meine ganz persönlichen Hexen sich begegnen.

Tessa Rebecca Krieger

 

Masterthesis Sommersemester 2025

Betreut von: Dr. Deborah Enzmann

Zweitkorrektor: Prof. Dr. Thomas Friedrich

 

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