Zwischen Spiegel und Konstruktion
Lange Zeit galt die Fotografie als unmittelbarer Spiegel der Wirklichkeit. Doch im digitalen Zeitalter lösen Bildbearbeitung und künstlich generierte Inhalte diese Vorstellung zunehmend auf. Was früher als dokumentarisches Abbild verstanden wurde, ist heute oft Ergebnis gezielter Manipulation – eine Entwicklung, die unser Verständnis von Authentizität und Realität grundlegend verändert.
Eine spannende Perspektive auf dieses Thema bietet ein unerwarteter philosophischer Bezugspunkt: der Universalienstreit. Diese historische Debatte, die die Frage stellt, ob Universalien, also Allgemeinbegriffe, eine eigenständige Realität besitzen oder lediglich sprachliche Konstruktionen sind, wurde bereits vom deutschen Schriftsteller Alfred Döblin aufgegriffen, um die Fotografien von August Sander zu analysieren. Döblin erkannte, dass Sanders Porträts nicht nur Individuen abbilden, sondern zugleich gesellschaftliche Typen formen – eine Interpretation, die aufschlussreiche Parallelen zur heutigen digitalen Bildkultur eröffnet.
Aufbauend auf dieser Idee wurde in meiner Abschlussarbeit untersucht, inwiefern die Theorie des Universalienstreits dazu beitragen kann, den Wirklichkeitsgehalt digital bearbeiteter Fotografien zu untersuchen. Um diese Frage zu beantworten, wurden klassische Fototheorien mit philosophischen Konzepten verknüpft und Döblins Leseart von Sanders Fotografien auf die heutige Selfie-Kultur übertragen. Während Sander mit seinen Porträts das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft sichtbar machte, steht die digitale Bildbearbeitung für eine zunehmende Konstruktion von Identität.
Als visuelle Ergänzung zur theoretischen Auseinandersetzung wurde ein digitales Buchcover entworfen, das den Kern der Untersuchung auf gestalterischer Ebene widerspiegelt. Das Design kombiniert digitale Elemente mit handgefertigten Federzeichnungen in Tinte, um die Gegensätze zwischen Abbild und Konstruktion sowie Wirklichkeit und Bearbeitung visuell aufzugreifen. Das Cover steht sinnbildlich für die zentrale Fragestellung der Arbeit: Es verweist auf die Fotografie als Medium zwischen Spiegel und Inszenierung – genau jene Dualität, die der Titel der Arbeit einfängt.
Die Untersuchung zeigt, dass der Universalienstreit eine wertvolle Perspektive bietet, um die Dynamik zwischen Individuellem und Allgemeinem im digitalen Zeitalter neu zu denken. Damit liefert die Arbeit nicht nur eine tiefere theoretische Einordnung der Fotografie, sondern beleuchtet auch deren gesellschaftliche Bedeutung in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Realität und Bearbeitung immer weiter verschwimmen.
Michael Ganninger
Bachelorarbeit WS 24/25
Betreut von: Prof. Dr. Thomas Friedrich
Zweitkorrektor: Prof. Dr. Claude W. Sui
Kontakt
michael.ganninger@ gmx.de